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Der Mensch in der Mitte


20. Juni 2024

Eingliederungshilfe im sozialen Raum: Selbstbestimmte Teilhabe als Basis und Ziel aller Unterstützung / Gut besuchter AWO Fachtag

RASTEDE/OLDENBURG/MERZEN. Der Arztpraxis wegen ungewaschener Haare verwiesen. Auf der Straße aufgrund von Selbstgesprächen gemieden. In der Schlange beschimpft, weil die innere Angst an der Kasse lähmt. Im Bus beleidigt, weil niemand versteht, dass nur ein bestimmter Sitzplatz der eigene sein kann, ja vielmehr muss. Wo dürfen sich Menschen mit psychischen Einschränkungen – dauerhaft oder akut – willkommen fühlen, wenn nicht im eigenen sozialen Raum? Darüber haben jetzt 44 Expertinnen und Experten in eigener Sache, aber auch zum Thema Eingliederungshilfe in Theorie und Praxis miteinander in Rastede diskutiert.

„Eine solche Hilfe und das nötige Verständnis füreinander müssen von unten wachsen und dort auch gewünscht sein", so Susanne Jungkunz (Koordinatorin der Strategischen Sozialplanung bei der Stadt Oldenburg), „wird es von oben erklärt, funktioniert es nicht".

Die professionelle sozialraumorientierte Arbeit war Thema eines Fachtags der AWO Trialog Weser-Ems in Rastede – und offenkundig dringend nötig. Bei der Eingliederungshilfe handelt es sich zwar um eine bewährte professionelle Systematik, dennoch ist sie stetem Wandel ausgesetzt. Neue Erkenntnisse und neue Rahmenbedingungen beispielsweise durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) sind hier treibend, schlussendlich aber alles vom Wohlwollen der Gesellschaft abhängig. Wie also soll es gelingen, Menschen mit Einschränkungen jeglicher Art in ihrem direkten Umfeld eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen, ohne dabei „Sonderwelten" zu erschaffen, die Abgrenzung mit sich bringen? Die Antwort bleibt ernüchternd, solang in Arztpraxen, Kassenschlangen und bei Busfahrten menschliche Besonderheiten als störend gebrandmarkt werden.

Gesamtgesellschaftliche Sisyphos-Arbeit

„Ein Sozialraum hat für uns nicht nur kalte Kennzahlen, sondern steckt auch voller Gefühle. Hier müssen Herz und kluger Kopf zusammenarbeiten – wenn beides verstanden wird, ist viel gewonnen", sagte Susanne Jungkunz in ihrem Grußwort. Wohlwissend, dass vielerorts das Zutrauen in die Arbeit der Eingliederungshilfe fehlt. „Wir sollten Erkrankungen, die jeden Menschen irgendwann irgendwo treffen können, auch und vor allem individuell begegnen", so Anna Dierks (Projektkoordinatorin „Teilhabe gestalten" bei der AWO Trialog Weser-Ems), „dies eingebettet in die Gesellschaft, unter Berücksichtigung der jeweiligen Ressourcen – alles andere ist Sisyphos-Arbeit, die wir unter den gegebenen Umständen nicht zu leisten imstande sind".

So pragmatisch dies klingt, so lebendig wurde am Mühlenhof diskutiert. Echte praktische Erfahrungswerte wurden den gesetzlich theoretischen Vorgaben gegenübergestellt, Ressourcen mit tatsächlichen Bedarfen verrechnet. Unterm Strich festigte sich da die Erkenntnis, dass eine Erschließung des Sozialraums und damit das allseitige Netzwerken im Ort die wertvollste und möglicherweise einzig handhabbare Option zur Teilhabe sein kann. Ansätze, die von der AWO Trialog Weser-Ems bereits seit einiger Zeit erfolgreich umgesetzt werden. Hier hat das inklusive Strategieprojekt „Teilhabe gestalten" längst Bedarfsermittlungen durchgeführt und Quartierserkundungen wie aktives Ehrenamt, so jüngst bei einer Müllsammelaktion in Rastede, vorgenommen. Mittelfristig sollen weitere Projekte wie öffentlichkeitswirksame Aktionstage der Einrichtungen, aber auch Innerorts-Kooperationen und damit der Auf- und Ausbau von sozialen Netzwerken erfolgen.

Good Practice Beispiel Schlichthorst

Als „Good Practice"-Beispiel gilt da die AWO Wohnanlage Günter Storck – Schlichthorst in Merzen (bei Osnabrück). Dort ist die Einrichtung tatsächlich ein Ort der Begegnung, örtliche Vereine sind eng angebunden. Sie nutzen die hiesige Kegelbahn und Räumlichkeiten für Versammlungen. Es gibt Flohmärkte und einen öffentlichen Bücherschrank, Cafeteria, Winterfeste, ja sogar Plattdeutsches Theater, ein Dorfkino und viele weitere Aktionen. Kurzum: Obwohl weit außerhalb gelegen, ist die Einrichtung eine echte Mitte – und so sind es hier die Klient*innen, die ihre Interessen und Wünsche nicht nur verbalisieren können, sondern diese auch gemeinschaftlich umsetzen.

„Wo Unwissenheit und Ängste bislang Akzeptanz und Austausch verhindern, wollen wir die Sozialräume zu allen Seiten öffnen und vor allem offenhalten", so Tatjana Borejko, Referentin für Soziale Teilhabe und Organisatorin des Fachtags. „Lassen sich Geduld und Akzeptanz im direkten Austausch regulieren, die Menschen einander näherbringen und Verständnis, Toleranz und Respekt füreinander schaffen, sind Partizipation und Inklusion im Quartier mindestens wahrscheinlicher."

WEITERE INFORMATIONEN

Der AWO Bezirksverband Weser-Ems ...
... bietet mit seinen weit über 4100 Mitarbeitenden zwischen Nordsee und Osnabrücker Land soziale Dienstleistungen in rund 80 Einrichtungen rund um Pflege, Kinderbetreuung, psychosoziale Teilhabe und Beratung an. Als politischer Verband vertritt dieser die Interessen der Menschen in der Region und setzt sich für eine demokratische und gerechte Gesellschaft ein.

Die Arbeiterwohlfahrt ...
...gehört zu den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Bundesweit wirken in ihr über 300.000 Mitglieder, mehr als 72.000 ehrenamtlich Engagierte und 242.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen, um in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.

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