Jubiläum: Mühlenhof in Rastede unterstützt Menschen mit wesentlichen seelischen Behinderungen / „Trialog" als wegweisendes Element
RASTEDE. Es ist ein Zuhause auf Zeit – für Menschen, die plötzlich den Draht zum Umfeld verloren haben, denen der Alltag zu groß geworden ist oder die dringlich feste Leitplanken benötigen, um wieder zurück ins Ich finden zu können. Am Freitag (23. August) feierte die Wohnanlage am Mühlenhof mit Klient*innen, Nachbarn und Mitarbeitenden das große Jubiläum, öffnete zum 50-jährigen Bestehen auch Jenen Tür und Tor, die sonst vielleicht eher aus Sorge, Missverständnis oder Unkenntnis den direkten Kontakt meiden könnten.
„Als Ort, der seine Bewohner bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unterstützt, ist die AWO Wohnanlage ein wichtiger Bestandteil in der Gemeinde Rastede und wird dies auch in Zukunft sein", hatte Rastedes Bürgermeister Lars Krause da gleich zu Beginn der Veranstaltung gemutmaßt – und erhielt augenblicklich breite Zustimmung. Krause vermerkte, dass es sich hier um „einen der schönsten Standorte, die man sich im Gemeindegebiet vorstellen kann" handele. Seit nun schon einem halben Jahrhundert betreibt der AWO Bezirksverband im Ort unter Federführung der Gesellschaft Trialog die Wohnanlage – aktuell werden hier rund 60 Personen mit seelischer Behinderung an der Mühlenstraße 80 durch den Alltag begleitet. Dabei war die Postanschrift bis zum Jahr 2011 noch eine andere, ganze 33 Hausnummern und wenige hundert Meter weiter wurde die Einrichtung unter dem Signet „Grünes Haus" betrieben, bis dann die frühere Kleeblatt-Klinik übernommen und für die heutigen Zwecke umgebaut wurde. Wie und dass die AWO bis dato vielfach in Rastede mit unterschiedlichen Angeboten aufgetreten war, habe es dem damaligen Gemeinderat – Zitat Krause – „leicht gemacht, den gewünschten Nutzungsänderungen fraktionsübergreifend zuzustimmen".
Eine „besondere" ist die Wohnanlage am Mühlenhof allemal. So weist es schließlich nicht nur die rein rechtliche Bezeichnung zur besonderen Wohnform in der Eingliederungshilfe nach SGB aus, sondern findet sich auch im hiesigen Programm und der Motivation beteiligter Personen wieder. Über 30 Mitarbeitende mit ganz unterschiedlichen Expertisen, ob nun in den Bereichen Wohnen, Tagesstruktur oder Verwaltung, eher im Sozialdienst oder doch der Hauswirtschaft und Technik: Als Team sind sie den Klient*innen für viele Jahre vielleicht nicht unbedingt Familie, aber doch wichtigste Stütze in oder nach einer kräftezehrenden Zeit. „Dabei stellen Sie sich individuell auf die unterschiedlichen Bedürfnisse Ihrer Klienten ein und bieten ihnen ein geborgenes Lebensumfeld und nötige Hilfestellungen. Dafür gebührt Ihnen größte Anerkennung und Dankbarkeit", so Bürgermeister Krause in seinem Grußwort.
Seelische und emotionale Stabilität wird hier auf ganz unterschiedlichen Wegen gegeben, mindestens aber angeboten – so unter anderem in der Werkstatt, wo Klient*innen den handwerklichen Umgang mit Holz erlernen. Die Wertschätzung dieser gefertigten Stücke bringt oft das eigene Selbstvertrauen, vielleicht aber auch schlicht das Zutrauen in die eigene Person zurück. „Wir sprechen hier von tagesstrukturierenden Angeboten", so Denise Neßmann (seit 2022 Einrichtungsleiterin), „eine Aufgabe zu haben und Routinen zu entwickeln, gibt wichtige Orientierung und vermittelt Sicherheit".
Faktoren, die hier und dort tatsächlich auch zur Bewältigung des Jubiläumsfestes nötig sein mögen, denn nicht jeder Person fällt es leicht, überhaupt in Kontakt, geschweige denn in einen kommunikativen Austausch zu treten. Stete Netzwerkarbeit ist da von größter Bedeutung – ob mit anderen Einrichtungen oder auch im direkten Umfeld. Wie es vorurteilsfrei, ja gerade herzlich gehen kann, zeigte die benachbarte Waldkindergartengruppe „Waldfinken" unter Leitung von Tina Martel und Lea Götting; diese hatte gleich zwei zauberhafte Ständchen für die Einrichtung zum Besten gegeben.
So einfach und ungezwungen funktioniert es nicht immer. Die „Erkundung des Sozialraums" erzeugt zuweilen Druck und Überforderung, ist aber Teil des Prozesses, der hier Tag um Tag angestoßen wird und im wahrsten Sinne immer mehr immer größere Fortschritte und eigene Entscheidungen ermöglicht. Dabei werden Klientinnen und Klienten jedoch nie allein gelassen. Auch in diesem Fall wurden sie auf den sicherlich überaus herausfordernden Tag vorbereitet, dies aber mit freilich beachtlichem Erfolg. Einige von ihnen mischten sich gar unter die mehr als 50 Jubiläumsgäste im Einrichtungsgarten und erfuhren in höchstem Maße Teilhabe. Mehr noch: Bewohner*innen-Vertreter Wolfgang Plöger trat gemeinsam mit Petra-Maria Stolzenberg aufs Podium und berichtete beeindruckend aus Alltag und Arbeit. Kein Wunder also, dass Denise Neßmann sicherlich mit etwas Stolz dieses besondere Momentum hervorhob. Vorsichtig rief sie dann noch zu Spenden auf, mit denen vor allem die Außenbereiche weiter optimiert werden sollen: „Wir würden hier gern noch Plätze zum Verweilen schaffen – für unsere Klientinnen und Klienten, ihren Besuch und nicht zuletzt auch Mitarbeitende."
Der Grundstock ist zumindest gelegt: Ulla Groskurt, Vorsitzende des Präsidiums im AWO Bezirksverband Weser-Ems, überreichte Neßmann stellvertretend einen großen „Einkaufsgutschein", von dem die Einrichtung profitieren solle. Großkurt ergänzte: „50 Jahre – eine lange Zeit, die entweder ohne großes Auf und Ab einfach so vorbeiziehen kann, oder aber auch so spannend wie hier mit immer neuen Ideen und Herausforderungen von Jahr zu Jahr interessanter wird", sagte sie, „hier am Mühlenhof ist's für ganz verschiedene Menschen ein Ort zum Wohnen, zum Leben, einfach zum Zuhause sein. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass es noch unzählige Jahre so bleibt".
WEITERE INFORMATIONEN ZUM THEMA
Die Wohnanlage am Mühlenhof in Rastede ...
... ist eine sozialpsychiatrische Einrichtung für Menschen mit einer wesentlichen und nachgewiesenen seelischen Behinderung. Klient*innen leben mit den Folgen einer wesentlichen psychischen Erkrankung nach ICD-10, die bereits länger als sechs Monate anhält. Dazu gehören etwa Schizophrenie und wahnhafte Störungen (Psychosen), Affektive Störungen (Depressionen und Manie) sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (u.a. Ängste und Zwänge). Die sogenannte „Besondere Wohnform" ist ein Leistungsangebot der Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen, die der Förderung und Unterstützung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bedürfen.
Voraussetzungen zur Aufnahme ...
... sind u.a. die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an den Maßnahmen, die Akzeptanz der Regeln der Wohnanlage, die Teilnahme an tagesstrukturierenden Maßnahmen und die Bereitschaft, sich an gemeinschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Viele der Betroffenen leben oft sozial isoliert und müssen sich mit erheblichen sozialen und persönlichen Problemen auseinandersetzen. Nicht wenige haben durch die Krankheit lebenspraktische Kompetenzen verloren. Häufig leiden sie unter traumatischen Erfahrungen und haben zumeist Schwierigkeiten dabei, das alltägliche Leben zu bewältigen, begleitet durch z. B. Ängste, geringes Selbstwertgefühl und Antriebsstörungen.
Der Trialog ...
... bezeichnet die fachliche Einbindung und Begleitung aller Personen an dem psychiatrischen Versorgungprozess, die zur Unterstützung der betroffenen Person an dem Prozess beteiligt sind oder sein wollen. Dazu zählen die betroffene Person selbst, die (organisierten) Angehörigen und die professionellen Fachleute: Gemeinsam verhandeln und diskutieren sie die Interessen und Bedarfe in der Zusammenarbeit. Dabei wird auf die individuellen Eigenheiten, Bedürfnisse und das Selbstbestimmungsrecht der Klient*innen geachtet, ihre Stärken und Fähigkeiten in den Vordergrund gestellt. Kompetenzen werden gefördert und ihnen so viel Verantwortung wie möglich belassen oder übergeben. „Basierend auf unserem Grundsatz ,Begegnung auf Augenhöhe' wird die leistungsberechtigte Person als Expertin oder Experte in eigener Sache wahrgenommen", erklärt Janne Koch (Prokuristin AWO Trialog Weser-Ems GmbH).
Der AWO Bezirksverband Weser-Ems ...
... bietet mit seinen weit über 4100 Mitarbeitenden zwischen Nordsee und Osnabrücker Land soziale Dienstleistungen in rund 80 Einrichtungen rund um Pflege, Kinderbetreuung, psychosoziale Teilhabe und Beratung an. Als politischer Verband vertritt dieser die Interessen der Menschen in der Region und setzt sich für eine demokratische und gerechte Gesellschaft ein.
Die Arbeiterwohlfahrt ...
...gehört zu den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Bundesweit wirken in ihr über 300.000 Mitglieder, mehr als 72.000 ehrenamtlich Engagierte und 242.000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen, um in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken und den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen.